Archiv der Kategorie: Roman

Vom Wind verweht

Buch und Film sind zweifellos Klassiker, und wohl die meisten Lesenden und Cineasten der mittleren bis älteren Generation kennen zumindest in groben Zügen die Story des romantisch-verklärten Südstaatenepos „Vom Winde verweht“ vor dem Hintergrund des amerikanischen Bürgerkriegs um die zuweilen als größte Liebesgeschichte aller Zeiten beschriebene Beziehung zwischen Scarlett O´Hara und Rhett Butler. Ich erinnere mich, dass meine Mutter den meist um die Weihnachtszeit ausgestrahlten Film von 1939 mit Vivien Leigh und Clark Gable in den Hauptrollen unzählige Male und immer wieder gern gesehen und dabei die eine oder andere Träne vergossen und auch  das 1936 erschienene Buch von Margaret Mitchell wie viele ihrer Altersgenossinnen nahezu „verschlungen“ hat. Ich gestehe, bisher weder das Buch in der bisherigen deutschen Übersetzung von Martin Beheim-Schwarzbach gelesen noch den Film vollständig gesehen zu haben, umso mehr beflügelte mich die Tatsache, dass im Verlag Kunstmann unter dem Titel „Vom Wind verweht“- welcher schon vermuten lässt, dass mit dem fehlenden „e“ weniger Staub und mehr Modernität einhergehen könnten – der Romanklassiker zum Beginn des neuen Jahres 2020 in einer Neuübersetzung in die Buchhandlungen kommt, diesen nun endlich auch einmal zu lesen. Und welche Zeit wäre besser geeignet als die Zeit zwischen den Jahren, um sich mit einem 1300seitigen Schmöker für einige Tage gemütlich auf die Ofenbank zu verziehen und alles um sich herum zu vergessen …

Es ist die Lebens- und Liebesgeschichte einer sowohl in ihrer Lebenslust, ihrer Willensstärke und ihrem Mut als auch in all ihrer Ambivalenz, ihrem Hang zur Manipulation und einer gewissen Skrupellosigkeit faszinierenden jungen Frau, die eingebettet ist in die erschütternden Geschehnisse des amerikanischen Bürgerkriegs aus der Sicht der unter dem Krieg leidenden Bevölkerung rund um ihre Baumwollfarm Tara und die Stadt Atlanta im Bundesstaat Georgia, beginnend 1861 kurz vor Ausbruch des Krieges und endend in den kaum minder schweren Jahren der Reconstruction nach Kriegsende, ungefähr zwölf Jahre später, als Scarlett O´Hara 28 ist – so lebendig, abenteuerlich, erschütternd und spannend erzählt, dass ich das Buch kaum noch aus der Hand legen kann.

… Einige Tage später tauche ich wieder aus dem Lese-Wahn auf und stelle fest, dass ich tagelang gedanklich mit nichts anderem als diesem Buch beschäftigt war und nur schwer kann ich dem sich sogleich nach Lesen der letzten Seite einstellenden Impuls, sofort wieder von vorn zu beginnen, um die sich ausbreitende Leere zu füllen, widerstehen.

Mir fehlt  der persönliche Vergleich zum vorherigen Buch und zum Film, um diese direkt gegenüberzustellen, insofern kann ich mich nur auf Klappentext und Nachwort beziehen, wo angemerkt wird, dass diese Neuübersetzung sich viel näher am Original bewegt, indem sie weniger klischeehaft-romantisierend erscheint und mehr dem schnörkellosen, journalistischen Stil der Autorin Margaret Mitchell folgt und uns so nun beinahe einen anderen Roman lesen lässt, der sich mit Tolstois „Krieg und Frieden“ vergleichen lässt. Auch wurden vielgestaltige Rassismen überarbeitet, die sich in der vorherigen Buchausgabe fanden, so zum Beispiel gekennzeichnet durch eine unbeholfene und grammatikalisch falsche Sprechweise der Sklaven, in der Neuübersetzung in eine spezifische Form von Slang überführt.

Die Lektüre ist vor allem ein unterhaltsames und spannendes Leseabenteuer, welches uns neben der berührenden individuellen Geschichte die Schrecken eines Krieges ebenso wie die Stärke einer Frau eindrücklich vor Augen führt. Ganz großes Kino – und wer weiß … vielleicht auch bald in Form einer Neuverfilmung!

 

Margaret Mitchell: Vom Wind verweht

Neuübersetzung von Andreas Nohl & Liat Himmelheber

Kunstmann, 2020

Applejucy

Sie ist ein kreatives Allroundtalent: Tina Birgitta Lauffer schreibt und zeichnet, macht Musik, ist Puppenspielerin und Bauchrednerin. Dass ihr Toleranz und Menschlichkeit ein großes Anliegen sind, wird in jedem ihrer Werke überaus deutlich – so auch in ihrem neuen Abenteuer-Roman für Kinder, der uns mit seiner Geschichte um das aufgeweckte, sehr sympathische  und sich stets für Menschlichkeit und Gerechtigkeit einsetzende Hexenmädchen Applejucy in die Welt des 18.Jahrhunderts nach Amerika versetzt, in die Zeit des Sklavenhandels.

Als auf der Hexeninsel Green Witch Island das zwölfjährige Mädchen Applejucy – welches so genannt wird, weil es  sich vor allem im Herbeizaubern von Äpfeln sehr talentiert zeigt, während es mit dem Herbeizaubern anderer Dinge wohl noch ein wenig üben muss – eines Tages auf zwei Menschenkinder, die Geschwister Jomo und Nana, trifft und zunächst sehr beunruhigt ist, weil es Menschenkinder eigentlich gar nicht geben soll, merkt Applejucy jedoch schnell, dass alle Angst vor ihnen völlig unbegründet ist. Die aus Afrika kommenden Geschwister, deren Mutter von Sklavenhändlern nach Amerika verschleppt wurde, werden schnell Jucys Freunde und sie beschließt, ihnen bei der Suche nach ihrer Mutter zu helfen, wobei sie auch ihre –mal mehr und mal weniger gut gelingenden- Hexenkünste zum Einsatz bringt.

Das sehr schön gestaltete und neugierig auf den Buchinhalt machende mintfarbene Cover zeigt die rothaarige Applejucy mit ihrem Papagei vor maritimem Hintergrund mit einem historischen Segelschiff am Horizont, eingerahmt von floralen Intarsien, die auch in den umrahmten Seitenzahlen wiederkehren und gut zur Zeit der Romanhandlung passen. In 18 Kapiteln auf über 200 Seiten, versehen mit gelegentlichen eingestreuten Schwarz-Weiß-Illustrationen, begleiten wir mit zunehmender Spannung die drei Kinder nebst vorwitzigem Papagei Luis – wobei ihnen wie ein schützender Engel zuweilen Jucys neues Kindermädchen Miss Tuamoto zu Hilfe eilt – auf ihrer abenteuerlichen Mission nach Amerika und hoffen, bangen und lachen mit ihnen. Im Laufe der atemberaubenden Handlung erfahren wir – kindgerecht erläutert – einiges über die historischen Gegebenheiten aus der Zeit des Sklavenhandels im 18. Jahrhundert und dessen unfassbare Unmenschlichkeit.

Sehr ambitioniert, detailreich, schwungvoll, spannend und mit viel Situationskomik erzählt, ist dieser abenteuerliche Kinderroman, der sicher viele Mädchen und Jungen begeistern wird und auf Fortsetzungen hoffen lässt, ein großes Lesevergnügen und gleichzeitig ein überzeugendes Plädoyer für Menschlichkeit und gegen jegliche Form von Rassismus.

 

Titel: Applejucy – Abenteuer in Amerika

Text: Tina Birgitta Lauffer

Illustration: Stephanie Röttger

Verlag Monika Fuchs, 2019

In Extremis

Buchvorstellung von Hanna Nebe-Rector (Malkastl.de)

Mitten in eine Konferenz, bei welcher der Protagonist Thomas fern der Heimat im Kreise von niederländischen Physiotherapeutinnen  weilt, um einen Vortrag zu halten sowie theoretisch und praktisch eine bizarre Form der  Massage zur Beseitigung männlicher Altersbeschwerden zu erlernen, platzt eine Nachricht seiner Schwester, dass die Mutter im Sterben liege.

Hin- und hergerissen zwischen privaten und beruflichen Pflichtgefühlen, Abwägungen und Reflexionen, die sich durch alle seine Lebensbereiche ziehen und ihn dem eigentlichen Leben mehr oder weniger hinterherhetzen lassen, erlebt Thomas, ein Mann um die Fünfzig und Literaturprofessor, einen psychischen und physischen Extremzustand. Gebeutelt von ständigen Schmerzen und zunehmend quälendem Harndrang einerseits und ihn bedrängenden Fragen andererseits -wie jenen, ob er der im Sterben liegenden Mutter die Tatsache, dass er längst getrennt von Ehefrau und Familie und stattdessen mit einer ziemlich jungen Freundin lebe, mitteilen sollte oder ob er nicht doch besser zur Ex-Ehefrau zurückkehren sollte- lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Dass die Mutter, eine tiefgläubige ehemalige Laienpredigerin mit entsprechend hohen moralischen Ansprüchen und mit der offensichtlich bis zuletzt drängenden Hoffnung, den atheistischen Sohn auf den rechten Weg des Glaubens zurückzubringen, macht die Sache für ihn nicht einfacher.

Zugleich drängen ständig eingehende SMS zu immer wieder abzuwägenden Entscheidungen: Da ist die Ehefrau des besten Freundes, die Probleme mit dem halberwachsenen Sohn hat, und Thomas um Hilfe bittet. Da ist der beste Freund selbst, der sich in einem Lebensknoten verstrickt hat. Da ist die Liebe zur Mutter und das ständige Gefühl, dieser nicht gerecht zu werden. Da ist das Hin- und Hergerissensein zwischen Zuneigung zur jungen Geliebten und Ex-Ehefrau. Da ist die schrecklich nette, aufopferungsvolle und moralisch korrekte Familie seiner Schwester. Und da ist die Frage, ob er den Leichnam der Mutter besichtigen sollte oder nicht.

In der Unfähigkeit, zu rechter Zeit Entscheidungen  zu treffen, wählt Thomas den dritten Weg und stürzt sich in Geschäftigkeit, fliegt über Ländergrenzen hinweg Hals-über-Kopf direkt vom Sterbebett der Mutter zu einer Konferenz und wieder zurück und kommt dabei  zunehmend an seine eigenen psychischen und physischen Grenzen.

Tim Parks entwickelt über die Reflexionen seines Protagonisten in seiner verblüffenden Art und Weise, Komisches und Tragisches kunstvoll miteinander zu verweben, einen unglaublich spannenden und berührenden Sog des Erzählens, dem man sich kaum entziehen kann.

 

Tim Parks: In Extremis

Kunstmann, 2018

Kleine Schwester

Text: Barbara Gowdy

Übersetzung aus dem Englischen: Ulrike Becker

Verlag: Antje Kunstmann, 2017

 

Der eindringliche Blick des Mädchens auf dem Cover mutet ebenso mysteriös an wie die erzählte Geschichte: Rose, die junge Protagonistin des Romans, ist fasziniert wie irritiert von surrealen Empfindungen, die sie insbesondere während Gewittern heimsuchen. Dann befindet sie sich plötzlich im Körper einer anderen, real existierenden Frau namens Harriet, welche auf beunruhigende Weise ihrer im Kindesalter verstorbenen Schwester Ava ähnelt. Sie, die selbst nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen kann, empfindet die widerstreitenden Gefühle von Harriet angesichts einer ungewollten Schwangerschaft, als wären es ihre eigenen. Außerhalb von Harriets Körper sehnt Rose jedes aufziehende Gewitter herbei, um Harriets Entscheidungen zu beeinflussen. Ihr ganzes Denken und Tun wird von der ungewöhnlichen Situation mehr und mehr vereinnahmt. Daneben beherrschen die eigenen Beziehungsgeflechte und die Sorge um die an Demenz erkrankte Mutter, mit der sie ein Programmkino führt sowie die sich aufdrängenden Erinnerungen an die Kindheit Roses Gedankenwelt. Fragen von Schuld, Sehnsucht und ungelebtem Leben verweben sich mit der spannenden Handlung des Romans, der eine derartige Sogwirkung entwickelt, dass man das Buch kaum aus der Hand zu legen vermag.

Thomas & Mary

Autor: Tim Parks

Verlag: Kunstmann, 2017

 

Die Symbolik des am Strand verlorenen Eheringes zerstreut bereits zu Beginn alle Illusionen: die Ehe von Thomas und Mary ist schon lange bevor es beide zu realisieren beginnen, in Auflösung begriffen, war vielleicht von Anfang an eine Farce.

Thomas und Mary, Eltern zweier erwachsenwerdender Kinder, haben sich eingerichtet in der Belanglosigkeit und leiden doch darunter, spüren den beginnenden Auflösungsprozess und die unvermeidlichen Konsequenzen.

Mit der Präzision eines Seziermessers setzt Tim Parks überall dort an, wo dieser Auflösungsprozess markiert wird – sei es während der beinahe voyeristisch anmutenden Szenen, die den Leser die Sex-Vermeidungsstrategien der Beiden miterleben lassen, das Ausweichen vor konstruktiver Kommunikation, das beiderseitige Ersticken im Alltags-Einerlei, das notorische Fremdgehen, die ungestillte Sehnsucht nach Veränderung.

Es sind  aufflackernde Erinnerungsfetzen,  -meistens jene von Thomas, aber auch des Sohnes, der Eltern oder von Freunden, nur Marys Empfindungen bleiben dabei sonderbar blass- brilliant und doch unsentimental, ja nüchtern erzählt, die sich aus Vergangenem und Gegenwärtigem speisen, die keiner geradlinigen Chronologie folgen, sondern die zentrale Problematik aus unterschiedlichen Entfernungen und Perspektiven umkreisen und so zum Puzzle einer schmerzlichen Chronik aus Szenarien einer unglücklichen Ehe werden.

Zuweilen mag man das Buch erschöpft weglegen, weil die Schmerzlichkeit des Verlustes nur schwer erträglich ist. Und doch besitzt es eine Anziehung, die es schafft, sich der Lektüre immer wieder zuzuwenden – und das letztlich mit Gewinn.

Federflüstern

Autorin: Holly-Jane Rahlens

Verlag: Rowohlt Rotfuchs

Nach ihrem Roman „Blätterrauschen“, in welchem die Teenager Rosa, Iris und Oliver unfreiwillig eine Zeitreise in die Zukunft unternehmen, führt die Autorin ihre sympathischen Buchhelden nun in die Vergangenheit.

Gemeinsam mit ihrer neuen Begleiterin Lucia, einer Zeitreisenden aus der Zukunft, hat die Jugendlichen ein verhängnisvolles Versehen ins bitterkalte Berlin des Jahres 1891 katapultiert, wo sie sich nun durchschlagen müssen, bis sie ein sogenannter Scout aufspürt, der sie wieder in ihre Zeit und ihr Zuhause befördern könnte. Doch mit der Datenübertragung will es nicht so recht klappen, so dass sie zunehmend befürchten, für immer im 19.Jahrhundert bleiben zu müssen. In der Hoffnung, dass der berühmte  Mark Twain, der zu dieser Zeit in Berlin lebt, dem Quartett in irgendeiner Weise helfen kann, suchen sie diesen und finden ihn schließlich auch. Der Schriftsteller gibt den vier Zeitreisenden vorübergehend Obdach, hört mit einer Mischung aus Unglauben und Faszination ihren abenteuerlichen Erzählungen zu und versucht nach seinen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu helfen.

Plötzlich taucht der seltsam aufgeblasene Junior-Junior, Sohn von Rirkrit Sriwanichpoom, welcher im Vorgängerroman „Blätterrauschen“ eine Rolle spielte, auf. Was führt er nur im Schilde? Wird es gelingen, einen Ausweg aus der verzwickten Lage zu finden? Die Zeit drängt, denn bald geht auch das Chronotonin, ein Mittel zur Bekämpfung des sogenannten Zeitlag, bei dem man zunehmend müder und schwächer wird, zur Neige. Zu allem Ungemach ist auch noch die Polizei hinter ihnen her, und die ist in besagter Zeit nicht gerade zimperlich mit über Zwölfjährigen …

Es ist bestimmt nicht zwingend notwendig, den Vorgängerroman zu kennen, um an dessen Nachfolger ausreichend Lesefreude zu haben, zumal es am Ende des Buches eine Zusammenfassung der Geschehnisse aus dem ersten Teil gibt, dennoch aber empfehlenswert, denn beide Teile sind ziemlich spannend zu lesen, so dass -im übertragenen Sinne des Titels des ersten Bandes- die Buchblätter nur so rauschen. Der Sinngehalt des Titels „Federflüstern“ erschließt sich im ebenso betitelten 33.Kapitel des Buches, welches insgesamt 36 Kapitel, die sich auf 348 Seiten verteilen, zählt.

Bemerkenswert ist noch das gelungene Titelbild, das eine der Handlungszeit entsprechende Ladenfront, hinter deren Scheibe vier Jugendliche in Kleidern des 19. Jahrhunderts stehen, ein Porträtbild Mark Twains und weitere Episoden der Handlung zeigt, stilistisch dem von „Blätterrauschen“ entspricht und jenes Titelbild wiederum Teil des neuen Covers wird – eine interessante gestalterische Idee.

Das Lesen der beiden Romane, in dem man sich hautnah in eine andere Zeit begibt und mit den Buchhelden immer wieder bangt und hofft, ist von Anfang bis Ende ein spannungsgeladenes Erlebnis.

Hanna Nebe-Rector, http://www.MALKASTL.de

Das Mondmädchen

Text: Mehrnousch Zaeri-Esfahani

Illustration: Mehrdad Zaeri

Verlag: Knesebeck, 2016

 

Samtig liegt das Buch der aus dem iranischen Isfahan stammenden Autorin, dessen Cover in Schwarz-, Weiß- und Grauabstufungen mit silberner Schriftprägung des Titels gestaltet wurde, in den Händen, wie eine kleine Kostbarkeit. Zartweiße Pusteblumen-Schirmchen schweben über das graue Vorsatzpapier. Eine ebenso zarte und berührende Geschichte erzählt „Das Mondmädchen“ auf folgenden 145 Seiten, die von zauberhaften Illustrationen von Mehrdad Zaeri begleitet wird. Es ist die Geschichte einer Flucht. Einer Flucht, wie sie auch die Autorin selbst als Kind erlebt hat und verarbeiten musste.

Die glückliche Kindheit eines verträumten kleinen Mädchens, Mahtab, die ihre Zeit am liebsten im wunderschönen Rosengarten der Mutter verbringt und sich dort um ihre geliebten Katzen kümmert, wird jäh unterbrochen, weil die „Blutrote“, eine Verkörperung des Bösen und des Terrors, die Macht übernommen hat und sich Mahtabs Familie genötigt sieht, zu flüchten. Eine endlos erscheinende Reise vom Morgen- ins Abendland und damit eine Zeit der Unsicherheit und der Angst beginnt. Das Land Athabasca aber, jener geheimnisvolle Ort, wohin Mahtab immer wieder in ihren Träumen reist, gibt dem Mädchen Halt und Hoffnung. Mit Hilfe der guten Fee Pari und den Schwänen Ipamen und Gugu entflieht sie der Verzweiflung und kann von der in Athabasca geschöpften Kraft auch ihrer Familie neue Zuversicht vermitteln.

„Das Mondmädchen“ ist ein zutiefst menschliches Buch, eine sprudelnde Quelle der Hoffnung!

Hanna Nebe-Rector, http://www.MALKASTL.de

 

Glückskind mit Vater

Autor: Christoph Hein

Verlag: Suhrkamp

2016

 

Das Buchcover –fünf Birkenstämmchen auf weißem Grund- stimmt ebenso wie das erste Kapitel, in welchem das Ranenwäldchen – ein nach dem Abriss von Gebäuden mit schnellwachsenden Birken wiederaufgeforstetes Gelände- in der Beschreibung desselben und durch den Auftritt einer geheimnisvollen Gestalt wie eine bildhafte Sequenz eines Alptraums erscheint, auf die Romanhandlung ein. Auf über 500 Buchseiten schildert der Autor Christoph Hein aus wechselnden Erzählperspektiven , wie sich der Einfluss des nie gekannten und doch immer präsenten Vaters des Protagonisten Konstantin Boggosch auf dessen gesamten Lebensweg, der im Buch sechzig Jahre und damit zugleich prägende Kapitel deutscher Geschichte umfasst, auswirkt.
Konstantin Boggosch, ehemaliger Direktor eines Gymnasiums, sträubt sich angesichts der Aussicht, zusammen mit drei weiteren ehemaligen Schuldirektoren auf einem Foto des örtlichen Lokalblatts gezeigt und überdies interviewt werden zu sollen. Ebenso sträubt er sich selbst gegenüber seiner Ehefrau Marianne vehement, über seine Vergangenheit sprechen zu wollen, die ihn jedoch mit einem an seinen Vater gerichteten und zu ihm gelangten Brief der Steuerfahndung zum wiederholten Male begegnet und zu beeinflussen beginnt.
Glückskind wird Konstantin von der Mutter genannt, welche nach Kriegsende als Ehefrau des Kriegsverbrechers Gerhard Müller, Besitzer der Vulcano- bzw. späteren Buna-Werke, nur knapp der Abführung durch die Russen entgeht, weil sie –mit ihm schwanger- kurz vor der Entbindung steht.
Die Mutter weiß nichts von den Plänen ihres Mannes, neben seiner Fabrik, im besagten Ranenwäldchen, ein KZ errichten zu wollen. Nach dem Krieg wird die Fabrik entschädigungslos enteignet, Gerhard Müller als Brigadeführer der SS und Kriegsverbrecher gehenkt und seine Familie aus dem Haus getrieben. Die Mutter distanziert sich von der Gesinnung des Ehemannes, trägt ihre neuen Lebensverhältnisse mit Fassung und nimmt für sich und die beiden Söhne, die sie allein großzieht, wieder ihren Mädchennamen Boggosch an. Den Söhnen verschweigt sie anfangs die Wahrheit über den Vater, um sie zu schützen. Bewundernswert erscheint ihre konsequente Haltung in der Ablehnung der in einem Gerichtsprozess des Schwagers für sie erwirkten Rente und aller sonstigen Zuwendungen des Onkels für ihre Söhne. Sie bleibt in Ostdeutschland, obwohl sie dort wegen der Verbrechen des Ehemannes nicht als Lehrerin arbeiten darf. Ihre Söhne unterrichtet sie in verschiedenen Sprachen, was sich für Konstantin später noch als sehr hilfreich erweisen wird.
Immer mehr, insbesondere für Konstantin, der den Vater nie persönlich kennenlernte, wird der Vater zum geheimnisumwitterten Phantom, das ängstigt und zugleich auch Adresse einer unbestimmten Sehnsucht nach der fehlenden Vaterfigur ist.
Als Konstantin elf Jahre alt ist, erfährt er die ganze Wahrheit über den Vater und beginnt -anders als der zwei Jahre ältere Bruder Gunthart-, diesen immer mehr für sich abzulehnen.
Parallel zur verstärkten inneren Auseinandersetzung mit dem Vater legt sich dessen Schatten zunehmend und kontinuierlich über Konstantins Lebensweg, beginnend damit, dass ihm, obwohl Klassenbester, der Besuch der Oberschule verwehrt wird. So beginnen abenteuerliche Pläne zu reifen: Konstantin will sich der Fremdenlegion anschließen und auf diese Weise vor dem ihm in seiner Heimat immer gegenwärtigen Vater-Phantom fliehen. In dieser Absicht gelangt er durch eine Flucht nach Westberlin tatsächlich bis nach Frankreich, wo er bald erkennt, dass die Fremdenlegion nicht die beste Idee war. Doch er kann die Prophezeiung seiner Mutter, Glückskind zu sein, hier verwirklichen. Ausgerechnet für vier ehemalige Widerstandskämpfer, die für ihn zugleich Freunde und Gönner werden, arbeitet Konstantin als Übersetzer, besucht mit ihrer Hilfe die Abendschule und legt die mittlere Reife ab.
Doch auch in Frankreich holt ihn die Figur des Vaters ein. Einer seiner Gönner; derjenige, der die ersehnte positive Vaterrolle für Konstantin zu besetzen beginnt, stellt sich als persönlich betroffenes Opfer von Konstantins Vater heraus. Erneut ergreift Konstantin, der es nicht wagt, vor seinen väterlichen Freunden zu dieser Situation Stellung zu beziehen, die Flucht. Am Tag des Mauerbaus kehrt er zurück in den Osten. Dass er dabei als sogenannter Republikflüchtling ungestraft davonkommt, ist glücklichen Umständen, wie sie Konstantin immer wieder begegnen, zuzuschreiben.
Nach dem Wiedersehen mit der stets geliebten und geachteten Mutter beginnt für Konstantin der folgende Lebensabschnitt in Magdeburg – mit Studium (wieder wegen des Vaters nicht das ursprünglich ersehnte), neuen Freunden, Beruf und erster Liebe – und auch dabei halten sich Glück und Unglück nicht weit voneinander entfernt. Konstantin beginnt zu erkennen, dass er seinem Schicksal, Sohn dieses Vaters zu sein, niemals wird ausweichen können.
„Glückskind mit Vater“ ist eine grandios erzählte Lebens- und Zeitgeschichte, in welcher sich viele deutsche Schicksale gespiegelt sehen werden -packend von der ersten bis zur letzten Seite, ganz so, wie man es nicht anders von Christoph Hein erwartet hätte.
Hanna Nebe-Rector, März 2016

http://www.MALKASTL.de